Zweckmässige Renngestaltung beim Marathonlauf


Zwischen Euphorie und Einbruch

Besser ankommen mit zweckmässiger Renngestaltung beim Marathonlauf – Analysen und Erfahrungswerte aus der Laufpraxis, von Wolfgang Weising

„Lauf nicht wieder so schnell los!“ Wer hat den gut gemeinten Spruch nicht schon des Öfteren als klugen Ratschlag vor dem Start mit auf den Weg bekommen. Nach dem Startschuss sind der gut gemeinte Tipp nicht selten so schnell vergessen wie die eigenen Vorsätze sportlicher Vernunft – schliesslich hat man ja gut trainiert, mehr und intensiver als im letzten Jahr. Da muss doch was dabei herauskommen ... 
 
Was heisst „zu schnell“ für den Einzelnen genau? Zu schnell für mich ist zugleich Zuckeltrab für den anderen neben mir. Das leidige Problem ist ein sehr individuelles. Jeder muss sein Tempo entsprechend seines Trainingszustandes selbst gestalten. Die nachfolgenden Zeilen tragen dazu einige Erfahrungswerte zusammen. Dabei wurden statistische Aussagen vom 30. real,- BERLIN-MARATHON mit herangezogen. Aufgrund der exakt vermessenen, flachen und vom Untergrund gut beschaffenen Strecke eignet sich diese besonders für die Ableitung allgemeingültiger Aussagen. Auch gehen die nachstehenden Betrachtungen davon aus, dass sie oder er bereits Marathonerfahrungen besitzen, gesund und beschwerdefrei, gut vorbereitet und normalgewichtig beim Marathonlauf an den Start gehen. Zur guten Vorbereitung gehören jahrelanges und ausreichendes Training. Der Anfänger, der zu schnell von null auf 42,195 km will, hat in der Regel einfach noch zu wenig Kilometer in den Beinen, um das nachfolgend Angeführte für sich umzusetzen.

Das Besondere am Marathon

Auf den ersten Blick verraten die Einlaufdaten, dass über 80 Prozent der Läuferinnen und Läufer in der zweiten Marathonhälfte zum Teil sogar erheblich langsamer unterwegs sind als in der ersten. Dabei verliert das Gros der Aktiven (Hauptklasse bis Altersklasse 50) im Durchschnitt 10 bis 14 Minuten, die (ungestüme) M35 geht sogar bis an die 20-Minuen-Grenze. Einzelne verlieren eine halbe Stunde und mehr. Demgegenüber stehen – als wollten sie sagen: „Es geht auch anders“ – etwas weniger als zwanzig Prozent der Marathonteilnehmer mit einer schnelleren zweiten Hälfte. Allen voran der Sieger des Feldes, Weltrekordler Paul Tergat aus Kenia. Seine 2:04:55 setzten sich aus den Halbmarathonzeiten 1:03:01 und 1:01:54 zusammen. Die Fachwelt spricht vom negativ Split. Auch die Siegerzeiten vergangener Jahre bzw. anderer hochkarätiger Marathonläufe zeichnen sich durch eine ähnliche Renngestaltung aus.

Was ist daraus zu lernen? Auch wenn Otto-Normal-Läufer nicht den Vergleich mit Tergat und Co. sucht, Schlussfolgerungen lassen sich dennoch für Langsamere durchaus ableiten. Dazu sei vorrausgeschickt, dass auch die Statistik ihre Schwächen hat und in der prozentualen Gesamtauswertung Details verloren gehen. Etwa die Tatsache, dass schnellere Marathonläuferinnen und Läufer, wenn sie sich übernommen haben, verhältnismässig sehr viel mehr Zeit einbüssen als jene, die sich in hinteren Zeitsegmenten aufhalten. Doch es soll hier nicht die Statistik angebetet, sondern eine Tendenz belegt werden. Dazu sei an die Besonderheiten des Marathonlaufes gegenüber kürzeren Langstreckendistanzen erinnert. Dass ein sehr guter 10.000-m- Läufer nicht automatisch seine Leistung auf einen Marathonlauf übertragen kann, hat sich mehr als einmal erwiesen. Man erinnere sich nur an den Ausstieg von Dieter Baumann beim Hamburg-Marathon 2001. Wer schon länger läuft, hat bereits am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, die eigene Tempofähigkeit über 10 km oder Halbmarathon auf den langen Kanten auszudehnen. Der Marathonlauf ist eben gerade deshalb etwas Besonderes und hat seinen eigenen sportlichen Anspruch, weil aufgrund der Dauer der Belastung im Körper anderes abläuft als auf kürzeren Distanzen. Selbst bei einem noch so schnellen 10.000-m-Rennen oder Halbmarathon werden die direkt am Muskel deponierten Energieträger (aus den Kohlenhydraten gebildetes Glykogen) kaum restlos aufgebraucht. Beim Marathonlauf jenseits der 30 km hingegen ist dies jedoch der Fall. Viel ist schon darüber berichtet worden, wie man sich an diesem Grenzpunkt fühlt. Der berühmte „Mann mit dem Hammer“ wird immer wieder zitiert, der übermächtig von der einen auf die andere Minute „zuschlägt“ und die Glieder müde macht ...

Balanceakt für den Stoffwechsel

So gesehen hat die Tatsache, dass ein zu schneller Rennbeginn zum Fiasko führt, beim Marathon ganz andere physiologische Hintergründe als auf kürzeren Strecken. Denn bei dem langen Kanten geht es nicht zuerst um Sauerstoffschuld und Laktat. Kein vernünftiger Läufer würde seine 1.000-m-Bestzeit nach einem Marathonstart laufen. Was beim „langen Kanten“ im Körper passiert, wurde inzwischen von der Wissenschaft von geheimnisvoller Verklärung befreit. Die Stoffwechselprozesse im Ausdauersport, namentlich beim Laufen, erklären zu grossen Teilen die Zusammenhänge. Wobei an dieser Stelle die komplizierten und komplexen Vorgänge nur vereinfacht und verkürzt angedeutet werden können. Fakt ist: Wer regelmässig ausdauernd läuft, ruft im Körper Anpassungsvorgänge hervor. Diese betreffen unter anderem auch die Ökonomisierung des Stoffwechsels während der Belastung. Dieser vollzieht sich immer im Mix von Kohlenhydratund Fettstoffwechsel.

Dabei gilt inzwischen als sicher, dass bei langsamer bis mittlerer Belastungsintensität stärker die Fettverbrennung herangezogen wird als bei schnellerem Tempo. Das liegt daran, dass der Fettstoffwechsel sehr viel träger (Antransport der Fettsäuren) abläuft und zudem mehr Sauerstoff benötigt als es bei der Energiegewinnung aus den Kohlehydraten (über die Bildung von Glykogen, direkt am Muskel vorhanden) der Fall ist. Der Körper wird je nach Belastungsintensität mehr auf die (im reichen Masse deponierten) Fettreserven oder mehr auf die (knapp bemessenen) Kohlenhydrate zurückgreifen. Besonders im höheren Intensitätsbereich „kippt“ der Stoffwechsel (nahezu) vollständig in die Glykogenverbrennung. Während auch der noch so trainierte Athlet nur wenige hundert Gramm Glykogen vorhalten kann, ist sehr viel mehr Fettgewebe verfügbar. Da heisst es, haushalten mit den wertvollen Glykogenreserven. Dies erscheint vor dem Hintergrund der vielen einwirkenden Faktoren (Muskelermüdung, Mineralmangel, Flüssigkeitsverlust u. v. m.), die beim Marathonlauf zusammenspielen, als das Kernproblem. Denn die Statistik zeigt, dass die grössten Zeitverluste jenseits der 30-km- Marke auftreten. Bei jedem Läufer liegt dabei je nach Trainingszustand (inkl. Berücksichtigung des Körpergewichts) die Stoffwechselbalance in einem anderen Tempobereich. Kommt dann noch ein Anstieg unterwegs, wird wieder alles beeinflusst, die Muskelarbeit wird grösser.

Das Ideal ist so nicht zu erreichen, aber man kann sich das Prinzip verinnerlichen. Während ein hochtrainierter Paul Tergat vermutlich noch bei dem für die meisten unvorstellbaren Tempo von 3:10 min pro Kilometer nicht an die eisernen Reserven geht, sondern erst beim Unterschreiten der 3:00-min-Grenze, könnten bei anderen Läuferinnen und Läufern selbst fünf oder sechs Minuten pro Kilometer zu schnell sein. 

Langsam ist schlau

Anzustreben ist es daher, sein eigenes Tempo so zu wählen, dass so lange wie möglich auf den Fettstoffwechsel zurückgegriffen werden kann. Dies ist kein leichtes Unterfangen. Jeder muss sein Tempo dazu finden. Wer allerdings seine Bestzeiten über die unteren Distanzen unterwegs durchläuft, der ist mit Sicherheit zu schnell unterwegs. Ein Paul Tergat, der immerhin schon Halbmarathonweltrekord in 59:17 min lief, liess sich bei seinem Marathonweltrekord fast vier Minuten länger Zeit auf der ersten Hälfte. Bezogen auf seine 10.000-m-Bestzeit (26:27,85) passierte er die Zehnerabschnitte drei bis vier Minuten „ruhiger“. Sein schnellster Zehner lag zwischen 30 und 40 km bei 29:12 min.

Wer der Prozentrechnung mächtig ist, könnte schon daraus für sich selbst eine eigene Versuchs-Marschtabelle mit negativem Split entwerfen. Übersetzt auf die berühmten 3 Stunden als Zielzeit würde das heissen, über 1:30 h zur Hälfte laufen und eben nicht der trügerischen Verlockung zu verfallen, sich ein vermeintliches „Zeitpolster“ auf der ersten Hälfte zu sichern. Direkt danach befragt, verriet auch Paul Tergat, dass er sich nicht dazu in der Lage fühlen würde, die Halbmarathon-Durchgangszeiten in umgekehrte Reihenfolge zu absolvieren.

Wer seine Leistungsfähigkeit beim Marathonlauf ausreizen will, wird nur mit kluger Renngestaltung seine Möglichkeiten voll ausschöpfen können. Doch gerade der gut Trainierte läuft in der Veranstaltungseuphorie, eben gerade weil er sich gut fühlt, nicht selten bereits auf den ersten Kilometern über seine Verhältnisse. Auch die bereits angeführte Statistik des 30. real,- BERLIN- MARATHON weist aus, dass die ersten fünf Kilometer – bezogen auf die später tatsächlich erreichte Endzeit – bei den meisten oft die schnellsten sind. Und das, obwohl viele in den hinteren Reihen am Anfang in der Läufermasse nicht so frei laufen können wie sie vielleicht möchten. Ein Glück, möchte man da fast sagen. Jeder kann es im Training mal versuchen, seinem geplanten langen Trainingslauf über 30 oder mehr Kilometer einen schnellen 5- oder 10-km-Lauf voranzustellen. Er wird danach unterwegs selbst beim noch so lockeren Dauerlauf die „Vorbelastung“ spätestens auf den letzten Kilometern arg zu spüren bekommen. Der Köper kann nicht zaubern, auch beim Trainierten nicht.

Ebenso ist der umgekehrte Selbstversuch denkbar: Mal ein Marathonrennen ohne Leistungsziel ganz locker angehen und dann nach der Hälfte oder im letzten Drittel nach Belieben und Möglichkeiten testen, was noch drin ist. Es ist eine völlig neue Körpererfahrung, wenn der sonst abrupte Leistungseinbruch auf den letzten zehn Kilometern nicht eintritt und man noch überholt und überholt – eben jene 80 Prozent, die es immer noch umgekehrt machen. Allerdings ist hier nicht dem sinnlosen und für manche Überehrgeizige lebensgefährliche Marathon-Endspurt das Wort gesprochen. Das bitte Tergat und den Seinesgleichen überlassen ...

Jeder ist gut beraten, auch im Training schon den negativen Split zu praktizieren. Auch auf kürzeren Strecken kann man sich angewöhnen, langsamer zu beginnen und später das Tempo zu erhöhen. Aus diesem Blickwinkel erscheinen die oft bemühten Lauftabellen, die etwa die Kilometerdurchgangszeiten linear hochrechnen, als fragwürdig. Eigentlich müssten sie zu Beginn langsamere Durchlaufzeiten ausweisen als im Fortschreiten der Strecke. Ein solches Tabellenwerk ist von den Fachleuten erst noch herzuleiten und dürfte nach individuellen Voraussetzungen sehr unterschiedlich ausfallen. Die Bestzeiten über 10 km und Halbmarathon sollten dazu die wichtigsten Ausgangswerte bilden. Wobei jedes Leistungsniveau – spricht man von 2:30 h oder von 5 h beim Marathonlauf – seine eigenen Zahlen hat. LAUFZEIT ist bestrebt hierzu weitere Aussagen zusammenzutragen. Und weiter gilt: „Lauf nicht wieder so schnell los.“

 


Quelle
http://www.feel-fit.com/


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