Porta Alpina: Fahrstuhl in die Unterwelt


Von Samiha Shafy

Am Schweizer Gotthard entsteht der längste Eisenbahntunnel der Welt. Hauptattraktion ist ein Bahnhof mitten im Berg: Von dort sollen Touristen künftig per Aufzug 800 Meter senkrecht durch das Felsmassiv rasen - hinauf bis in die Gipfelregion.

Unbemannt braust der Fahrstuhl durch den Schacht hinab. Mitten im feuchtwarmen Bauch des Bergs Tgom kommt er ächzend zum Stillstand. Minutengenau nach Fahrplan wird er gleich ein halbes Dutzend Bauarbeiter fast einen Kilometer durch den Berg hinauftragen, damit sie wieder ins Freie gelangen.


Gotthard-Tunnelprojekt: Längste Verkehrsröhre der Welt (Galerie)

Über der riesigen Felskaverne türmen sich fast 1000 Meter Glimmerschiefer und Gneis. Aus den Felswänden sickert warmes Wasser. Ein ausgeklügeltes Belüftungssystem kühlt die Luft hier unten von über 40 auf 28 Grad Celsius.

Die Bauarbeiter atmen schwer. Im Halbdunkel warten sie am Ende ihrer Schicht hinter einer Sicherheitsschranke. Sie tragen weisse Helme, Taschenlampen und Rucksäcke mit Sauerstoffgeräten. Es ist verboten, sich unnötig lange in der Nähe des Liftschachts aufzuhalten - Felsbrocken könnten herabstürzen. Überall hängen verdreckte Warntafeln: "Stop risk".

In diesem ungemütlichen Loch unterhalb des Bergdorfes Sedrun im Bündner Oberland bauen die Schweizer die längste Verkehrsröhre der Welt - den 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnel (siehe Grafik). Von dieser und drei weiteren Baustellen aus werden teilweise schon seit 1993 die Alpen unterhöhlt. Insgesamt 13 Millionen Kubikmeter Gestein - so viel wie fünf Cheops-Pyramiden - müssen aus dem Gebirge geschafft werden, damit in zehn Jahren Hochgeschwindigkeitszüge mit 250 Stundenkilometern durch die Alpen rasen können.

2000 Arbeiter schuften in Acht-Stunden-Schichten rund um die Uhr in den Tunnelröhren. Zwei Drittel der insgesamt 153,5 Kilometer Tunnel, Stollen und Schächte haben sie bereits herausgebrochen. In Sedrun ist der Fels so instabil, dass keine Tunnelbohrmaschinen eingesetzt werden können - mühsam sprengen die Arbeiter täglich nur bis zu sechs Meter frei.

Streckenweise muss der Tunnel alle 30 bis 40 Zentimeter mit massiven Stahlbögen fixiert werden. Zwischen den Bögen halten Metallgitter und Spritzbeton das hervorquellende Gestein zurück. Die Wände sind mit Reflektoren übersät - damit überwachen die Tunnelbauer, ob sich die Röhre trotz aller Sicherungen verschiebt. Immer wieder knackt es bedrohlich - als ob sich das Hunderte Millionen Jahre alte Gestein gegen die Durchlöcherung wehrte.

Rund 5,5 Milliarden Euro wird der Tunnel der Superlative nach heutigen Berechnungen kosten, über eine Milliarde mehr als geplant. Die Reisezeit von Zürich nach Mailand soll sich um eine Stunde auf zwei Stunden und 40 Minuten verkürzen.

Die geringe Steigung auf der ganzen Tunnelstrecke ermöglicht es, dass die schnellsten Güterzüge mit 160 Stundenkilometern durch den Gotthard donnern können - doppelt so schnell wie auf den bestehenden Strecken im Alpenraum. Ausserdem lässt sich das Gewicht von Güterzügen von heute 2000 Tonnen auf maximal 4000 Tonnen erhöhen. Das bedeutet mehr Güterverkehr auf der Schiene und weniger Lastwagen, die sich durch den chronisch verstopften Gotthard-Autobahntunnel zwängen; diese Hoffnung nähren jedenfalls die Bauplaner.

Der Supertunnel ist schon für sich genommen ein Jahrhundertbauwerk. Aber noch spektakulärer ist der Fahrstuhl in die Unterwelt, der die Tunnelarbeiter derzeit zu ihrem Arbeitsplatz befördert. Denn die Bündner haben Grosses damit vor: Sie wollen die düstere Baustelle unter den Alpen in ein Tor zur Bergwelt verwandeln - in die "Porta Alpina".

Der Lift, der heute Arbeiter, Maschinen und tonnenweise Ausbruchmaterial schleppt, soll ab 2016 Bahnreisende minutenschnell aus einem unterirdischen Felsbahnhof ins 1500-Seelen-Dorf Sedrun befördern. Von dort aus wären sie flugs auf der Skipiste oder könnten über blühende Alpenwiesen wandern.

Mit dem Glacier Express könnten Touristen dann in die mondänen Ferienorte St. Moritz oder Zermatt fahren. Das Bündner Oberland würde für Reisende aus den grossen Ballungsräumen nördlich und südlich der Alpen in attraktive Nähe rücken. Zürich wäre nur noch eine gute Stunde entfernt, Mailand rund anderthalb Stunden.

Zuerst war die Porta Alpina nur eine verrückte Vision zweier alter Schulfreunde. Einer der beiden, Marc Cathomen, 36, von Beruf Informatiker, sitzt in seinem Büro in Ilanz und blickt abwechselnd auf seine beiden Bildschirme. "Arthur und ich reden ständig über ausgefallene Ideen", sagt der Bündner schmunzelnd. "Aber dass man im Tunnel bei Sedrun einen Bahnhof errichten sollte, erschien uns nur logisch." Schliesslich war von Anfang an vorgesehen, in beiden Röhren eine Haltestelle einzubauen - allerdings nur für den Notfall, um Zugpassagiere etwa bei einem Brand evakuieren zu können.

Vor fünf Jahren begannen Cathomen und Arthur Loretz, die Leute in der Region Surselva für ihre Vision zu begeistern. Unermüdlich zogen sie durch die Dorfkneipen, hielten Vorträge und sammelten Unterschriften. Die Bergbewohner, die sich an den Stammtischen in den Kneipen trafen, verloren rasch ihr anfängliches Misstrauen. Sie begriffen: Die spinnerte Idee könnte die Rettung sein für ihre Region, die seit langem an Entvölkerung und schrumpfendem Tourismus leidet.

Schliesslich griff auch die Politik die Idee vom Bahnhof im Berg auf. Eine unter Federführung der Verkehrsämter des Bundes und des Kantons Graubünden durchgeführte Machbarkeitsstudie kam zum Schluss: Die Porta Alpina ist keine Spinnerei. Der Umbau der Nothaltestelle zum touristentauglichen Felsbahnhof wäre für 50 Millionen Schweizer Franken (rund 32 Millionen Euro) zu realisieren. Jede Stunde könnte ein Zug aus dem Norden und einer aus dem Süden im unterirdischen Bahnhof halten, ohne den übrigen Zugverkehr zu behindern.

Die Risiken für die Passagiere wären gering. Einen Brand im Tunnel halten die Experten der Machbarkeitsstudie für "wenig wahrscheinlich". Das Schlimmste, was passieren könnte: Die Liftkabine bleibt bei einem Stromausfall für kurze Zeit (weniger als eine Stunde) im Schacht stecken.

Wie wird es sich in Zukunft anfühlen, am Ende einer geruhsamen Zugfahrt 800 Meter senkrecht durch den Berg himmelwärts zu rasen? Für die Arbeiter, die in der stickigen Felskaverne auf ihren Feierabend warten, gehört der spektakuläre Lift fast schon zum Alltag. "Schliessen Sie besser die Augen, wenn es losgeht. Der Fahrtwind ist ziemlich heftig", warnt Oberbauleiter Alfred Seiler.

Dann beginnt die Fahrt mit der alpinen Geisterbahn: Der Stahlkäfig saust durch totale Finsternis, 12 Meter pro Sekunde. Die Gitterwände bremsen den Fahrtwind kaum ab, die Augen tränen, die Ohren verstopfen sich.

Nach weniger als zwei Minuten ist der Spuk vorbei. Oben heisst es umsteigen: Eine klapprige Bahn fährt einen Kilometer horizontal durch einen düsteren Zugangsstollen. Dann sieht der Reisende endlich Tageslicht - und steht unvermittelt vor einem atemberaubenden Bergpanorama.

Würde die Porta Alpina realisiert, sähe der Lift natürlich anders aus, vertrauenerweckender, er wäre zweistöckig und böte maximal 80 Personen Platz. In vier Schleusen, zwei in jeder Tunnelröhre, müssten Passagiere auf die Abfahrt warten. Es wäre lebensgefährlich, auf dem Bahnsteig stehen zu bleiben: Ein hindurchrasender Schnellzug erzeugt im Tunnel eine gewaltige Druckwelle, die wartende Personen wegschleudern könnte.

Um das prestigeträchtige Projekt verwirklichen zu können, ist der Bündner Bau- und Verkehrsdirektor Stefan Engler auf die Unterstützung der anderen Gotthardkantone angewiesen. In seinem Büro in einer alten Villa in Chur gerät er ins Schwärmen: "Die Porta Alpina wäre einmalig in der ganzen Welt. Sie wäre ein Symbol für die Erneuerungskraft der Bergregionen."

Bis Anfang kommenden Jahres müssen Graubünden, Uri, Wallis und Tessin ein gemeinsames Raumkonzept für die Gotthardregion vorlegen. Darin sollen sie erläutern, wie die Porta Alpina der ganzen Region nachhaltig nützen könnte. Auf dieser Grundlage will die Regierung dann endgültig entscheiden.

Die Chancen stehen gut: Vor kurzem hat Bern grünes Licht für die notwendigen Vorarbeiten gegeben. In diesen Tagen beginnen die Bauarbeiter damit, die vier Warteräume aus dem Fels zu sprengen. Das kostet zehn Millionen Euro, zu gleichen Teilen finanziert vom Bund und vom Kanton Graubünden.

Wie die Entscheidung auch immer ausfällt: Der "höchste Lift der Welt" (Eigenwerbung) ist schon jetzt eine Touristenattraktion. Der Bauherr Alptransit Gotthard AG, eine Tochtergesellschaft der Schweizerischen Bundesbahnen, lässt in Sedrun einmal pro Woche maximal 15 Besucher mit dem Lift zur Baustelle hinunterfahren (Ticketpreis: 60 Euro). Die Plätze sind bis Ende 2007 ausgebucht.



Quelle
http://www.spiegel.de


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