Gesund am Marathon ist nicht der Marathon


Erst zum Arzt, dann auf den Asphalt


Von Magnus Heier

Schon die Legende endete tragisch: Als das Heer der Athener die Übermacht der Perser bei Marathon besiegt hatte, wurde der Bote Eukles losgeschickt, um die Nachricht vom glorreichen Sieg nach Athen zu tragen. Nach einem Lauf von 42 Kilometern konnte er sie gerade verkünden, bevor er tot zusammenbrach.

Eukles ist seit 2495 Jahren tot. Aber der Mythos lebt. Die grossen Marathonläufe sind an den Grenzen ihres Fassungsvermögens angelangt: 40.000 Läufer waren es in der vergangenen Saison in London, 39.000 in Chicago, 36.000 in New York und 39.000 in Berlin. Und auch in der Provinz finden zunehmend Marathonveranstaltungen statt; mehr als zweihundert findet man unter „marathon.de“ im Internet. Die Zahl der deutschen Marathonläufer zu schätzen ist unmöglich. Aber es werden Hunderttausende sein. Nicht alle sind jung. Nicht alle sind gesund. Und nicht alle erreichen das Ziel.

Häufig rafft es junge, scheinbar kerngesunde Läufer dahin


Beim Halbmarathon in Newcastle starben vor zwei Monaten vier Männer im Alter von 28, 34, 43 und 52 Jahren. Und noch vor wenigen Wochen brach beim Peking-Marathon ein 20jähriger bei Kilometer 27 tot zusammen. Häufig rafft es junge, scheinbar kerngesunde Läufer vor grossem Publikum mitten im Wettkampf dahin. Natürlich nicht immer so spektakulär wie bei jenem 19jährigen, der beim Hamburg-Marathon auf der Zielgeraden zusammenbrach und tot liegenblieb. Sein Tod war in doppelter Hinsicht unverständlich: Erste Hilfe war sofort zur Stelle, aber alle Wiederbelebungsversuche blieben vergeblich. Und der junge Mann galt als versierter Sportler, der regelmässig trainierte.

Todesfälle im Sport sind nicht gerade selten. Jedes Jahr sterben etwa 900 Deutsche während des Sports. Aber dieser Sekundenherztod trifft die Sportler nicht aus heiterem Himmel. „Ein gesundes Herz können Sie durch einen Marathon nicht umbringen“, sagt Harald Beitat vom Deutschen Zentrum für Präventivmedizin. Die Opfer haben meist ein vorgeschädigtes Herz, auch wenn sie es in der Regel nicht wissen. Nach Auswertung von Untersuchungen an 286 verstorbenen jungen Wettkampfsportlern kommt Professor Wilfried Kindermann vom Institut für Sport- und Präventivmedizin der Universität des Saarlandes zu dem Schluss, dass praktisch alle Betroffenen eine erkennbare Herzschädigung hatten. 36 Prozent litten unter hypertropher Cardiomyopathie, einem krankhaft vergrösserten Herzmuskel. 17 Prozent wiesen eine angeborene Anomalie der Herzkranzgefässe auf, sieben Prozent Zeichen einer früheren Herzmuskelentzündung. Das Tückische an diesen Erkrankungen: Eine gute Fitness kann zum Beispiel eine Verengung der Aortenklappe kompensieren - der Betroffene merkt nichts, wirkt äusserlich gesund und fühlt sich gut.

Aufhören fällt schwer


In fast allen Fällen hätte man es wissen können - vorausgesetzt, die Sportler hätten sich untersuchen lassen, Infektionen ernst genommen und gegebenenfalls rechtzeitig aufgehört. Aber Aufhören fällt schwer, wenn der Läufer auf der ganzen Strecke angefeuert wird und es keine Chance zum unbeobachteten Ausscheiden gibt. „Ausserdem werden beim Laufen Endorphine ausgeschüttet, die eigenen Grenzen werden nicht mehr eindeutig spürbar, die Schmerzgrenze wird leicht überschritten“, sagt Kindermann. Und beissender Ehrgeiz lässt die Signale des Körpers schon einmal in den Hintergrund treten. Manchmal ist es auch nur der Ehrgeiz der Eltern. „Eltern sind die grössten Risikofaktoren beim Sport ihrer Kinder“, sagt Kindermann. Schon bei einfachen Volksläufen kann man beobachten, wie die Kinder weinend und mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Ziel laufen.

Problem Nummer zwei: Doping. Die Einschätzungen unterscheiden sich erheblich. „Etwa jeder fünfte Breitensportler ist gedopt“, sagt Kindermann. Dabei spielt das aus dem Fahrradsport bekannte Erythropoetin (EPO), das die Bildung roter Blutkörperchen anregt, eher eine geringe Rolle. EPO ist sehr teuer, schwer zu beschaffen und muss gespritzt werden. Es ist insofern nur für professionelle Sportler eine verbotene, aber letztlich erfolgreiche Strategie. Unter Laiensportlern ist nach Auskunft Kindermanns statt dessen Testosteron beliebt, wobei Doping und medizinische Behandlung ohne scharfe Grenze ineinander übergehen.

Gefährliche Schmerzmittel - Jedes Jahr sterben etwa 900 Deutsche während des Sports


Am häufigsten aber ist die Einnahme von Schmerzmitteln, um die zwangsläufig eintretenden Beschwerden in den Beinen oder am Rücken in Schach zu halten. „Beim Jungfrau-Marathon in der Schweiz hatte ein Drittel der Läufer irgendeine Substanz eingenommen, zumeist Schmerzmittel“, sagt Harald Beitat. Allerdings ist der Jungfrau-Marathon mit seinen 1829 Höhenmetern sicherlich nicht repräsentativ, auch nicht was die Teilnehmer angeht. Wie häufig und wie folgenreich Doping im Breitensport wirklich ist, wissen auch die Sportmediziner nicht genau zu sagen.

Wer nicht als toter Marathonläufer in die Statistik eingehen will, der muss vor allem zwei Dinge beachten. Erstens sollte er, zumindest vor seinem ersten Marathon, eine eingehende körperliche Untersuchung über sich ergehen lassen. Und zweitens sollte er nach jeder Art von Infektion, nach Naselaufen oder Fieber, zumindest in den nächsten zwei bis drei Wochen pausieren, auch wenn das nach monatelangem Training sehr schwer fällt. Diese beiden Regeln gelten im übrigen für jeden ambitionierten Sportler, vom Squashspieler bis zum Mountainbiker.

Wichtige Untersuchungen


Als medizinische Vorbereitung empfiehlt Willi Heepe, Internist und seit Jahren ehrenamtlicher medizinischer Leiter des Berlin-Marathons, mindestens ein EKG in Ruhe und unter Belastung, eine Ultraschallaufnahme des Herzens, eine Lungenfunktionsdiagnose sowie eine Blutanalyse. „Eine solche Untersuchung vor dem Marathon ist freiwillig. Wäre sie Pflicht, würden wir sowieso nur lauter belanglose Gefälligkeitsgutachten zu sehen bekommen“, sagt Heepe. Obwohl die Voruntersuchung freiwillig ist, seien immerhin sechzig Prozent der Teilnehmer des Berlin-Marathons vorher beim Arzt gewesen. Und hätten damit eine gute Lebensversicherung abgeschlossen.

Die Berliner bieten verunsicherten Läufern zusätzlich eine medizinische Untersuchung unmittelbar vor dem Lauf an, die sogenannte „Pre-Marathon-Clinic“. „Knapp 800 Untersuchungen hatten wir, 170 Personen haben wir ein unverbindliches Startverbot erteilt, und alle haben sich tatsächlich daran gehalten“, sagt Jürgen Lock, sportmedizinischer Direktor des Berlin-Marathons. Denn eine medizinische Untersuchung Monate vor dem Lauf kann nur vorübergehend Sicherheit geben.

Die zweite Lebensversicherung


Spätere akute Entzündungen, die auch den Herzmuskel befallen können, werden dadurch nicht erfasst. Um so wichtiger ist es, bei Unwohlsein, akutem Konditionseinbruch oder sonstigen Unsicherheiten unverzüglich den Hausarzt aufzusuchen. Schnupfen, Husten, Heiserkeit, vor allem aber Fieber sind absolute „red flags“, das heisst Startverbote. Wer nicht sicher ist, ob der Infekt wirklich ausgeheilt ist, kann von seinem Hausarzt das „C-reaktive Protein“ messen lassen, eine Art Entzündungsmarker: Liegt es unter fünf, kann der Betroffene wieder anfangen zu trainieren.

Die zweite Lebensversicherung ist die Organisation des Marathons selbst. Längst besteht die medizinische Notfallversorgung aus mehr als nur ein paar Hobbysanitätern, die mit Mullbinden am Strassenrand stehen. Bis zur Elektroschocktherapie des Herzens, der Defibrillation, reicht heute das Bündel der Notfallmassnahmen vor Ort. „Ab Kilometer 15 sind wir mit einem Defi innerhalb von drei Minuten an jedem Ort der Marathonstrecke“, sagt Heepe. Mehr als vierzig Elektroschockgeräte waren beim jüngsten Berlin-Marathon im Einsatz - diesmal allerdings, ohne dass eines davon eingesetzt werden musste. Wenn es doch passiert, ist eine minutenschnelle Behandlung das Entscheidende: „Eigentlich ist der Berlin-Marathon der sicherste Ort, um einen Herzinfarkt zu bekommen“, sagt Heepe, „viel besser jedenfalls als allein zu Hause auf dem Sofa.“

Härtetest für den Körper


Aber beim Marathon wird nicht nur das Herz maximal belastet. Für das Immunsystem wirkt ein solcher Härtetest wie eine schwere akute Entzündung. Die Zahl der weissen Blutkörperchen kann auf mehr als das Vierfache ansteigen, ohne dass eine Infektion vorliegt. Die Mediziner sind sich fast ausnahmslos einig: Das Gesunde am Marathon ist die Vorbereitung darauf - und nicht der Marathon selbst. „Wir gehen davon aus, dass eine moderate sportliche Belastung im Training das Immunsystem stärkt, eine extreme Belastung wie beim Marathon dagegen schwächt“, sagt Frank Mooren vom Institut für Sportmedizin an der Universität Münster. Im Tierexperiment mit Mäusen lässt sich tatsächlich nachweisen, dass bei moderater Belastung die Abwehrkraft gegen Viren gesteigert wird. Die gute Nachricht lautet ausserdem: Die Schwächung des Immunsystems nach einer maximalen Belastung hält vermutlich nicht länger als drei Tage an.

Wenn man alles richtig macht, dann erholen sich auch die Gelenke von der langen Asphalt-Tortur. Dieter Lagerström von der Sporthochschule Köln und medizinischer Berater des Köln-Marathons sagt: „Nicht das Laufen auf Asphalt per se ist schlecht. Man muss dann nur vorher auch auf Asphalt trainieren.“ Allzu weiche Schuhe, wie sie gerne für die Strasse gewählt werden, vermindern allerdings den Halt und schaffen orthopädische Probleme. Die Mehrzahl der Jogger braucht die heute üblichen übertriebenen Dämpfungssysteme jedenfalls nicht.

„Laufen ist wie Saufen“


Egal ob es um Herz, Immunsystem oder Gelenke geht: Das Problem bei grossen Laufereignissen wie dem Marathon ist, dass sich auch schlechte Läufer von der eigenen Euphorie narren lassen und die eigenen Grenzen nicht mehr erkennen. „Es ist beim Laufen wie beim Saufen“, sagt Lagerström, „man weiss beim ersten Mal nicht, wieviel man verträgt.“

Das sieht man spätestens im Ziel. Dort kann man, so Heepe, vier Gruppen unterscheiden: „Vorne laufen die Spitzenläufer, dann kommen die Neurotiker, dahinter die Gesellschaftsläufer und einsam und verbissen am Schluss dann die Eintagsfliegen.“ Doch selbst die Marathonläufer werden offenbar klüger, sagt Heepe: „Wir beobachten eine rapide Abnahme der Jammerfiguren am Ende des Feldes.“

Dr. Magnus Heier ist niedergelassener Neurologe und hat immerhin viermal einen Halbmarathon hinter sich gebracht.



Quelle
http://www.faz.net


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