Die Welt in 42,195 Kilometern


Gründe zu laufen gibt es wie Meilensteine am Meer beim San-Diego-Marathon oder beim Lauf der beiden Ozeane am Kap der Guten Hoffnung. Kardiovaskuläre Fitness natürlich, das Besiegen des inneren Schweinehunds oder das Überwinden der äusseren Mauer bei Kilometer fünfundzwanzig. Von ganz anderen Rennen ganz zu schweigen, die nicht immer aus den nettesten Motiven angetreten werden – you better run for your life if you can, little girl, catch you with another man, that's the end, little girl. Die Beatles (übrigens selbst grosse Jogger, zumindest vor der Kamera) waren schon 1965 nicht nur niedlich.


Noch viel mehr Gründe gibt es allerdings, nicht zu laufen, sich zum Beispiel vom inneren Schweinehund besiegen zu lassen, ohne mit der Wimper zu zucken, beim Genuss einer Mokkatorte auf der Terrasse des Lusthauses, das von Läufern im Endstadium – etwa bei Kilometer sechsunddreissig – umkreist wird. Oder sich der Literatur zuzuwenden, die einem erklärt, warum Langstreckenläufe eh nicht gesund seien: Nachdem der Markt mit Pro-Jogging-Büchern gesättigt ist, wird es höchste Zeit, dass neueste Erkenntnisse das Gegenteil beweisen – auch wenn sie nichts anderes bedienen als eine Marktlücke, die dadurch entsteht, dass Leser ihre Faulheit wissenschaftlich untermauert sehen wollen. Oder – und das wäre überhaupt am besten – man läuft nicht, weil man nie den Anstoss dazu bekommen hat, nie gehört hat, dass der Mensch doch auch zu anderem konstruiert wurde als zum Autofahren und zum Couch-‑ besetzen.

... im Wandel der Zeit


Nie gehört? Das allerdings ist kaum vorstellbar. Vielleicht vor 40 Jahren, als der durchschnittlich aufgeweckte Bürger mit Marathon eine Schlacht verband und eine Siegesmeldung mit Todesfolgen. Und als man den Sieger des einschlägigen, 42,195 Kilometer langen Bewerbs bei den Olympischen Spielen in Rom nur deswegen in Erinnerung hatte, weil er barfuss lief (was wiederum bestätigte, was der durchschnittlich xenophobe Bürger immer schon über Bewohner bestimmter Kontinente wusste). Dieser Läufer gewann übrigens vier Jahre später wieder, diesmal mit Schuhen, die ihm ein Japaner zur Verfügung stellte, der laut dachte: Anima sana in corpore sano! Kurz: Asics.

Vor gut 30 Jahren blieb auch die Handvoll Unentwegter unbeachtet, die durch den New Yorker Central Park ihre Runden drehte. Überraschend viele gaben nicht auf, im doppelten Sinn: Sie erreichten das Ziel nach sechsundzwanzig Meilen, ohne unterwegs mit Sponsorendrinks und Corporate-Underwriter-Energieriegeln versorgt worden zu sein. Und sie verloren auch das Ziel nicht aus den Augen, aus einer Veranstaltung von ein paar Spinnern ein Massenereignis zu machen. Boston hatte zwar schon lange seinen Stadtmarathon, aber für die Medien als Multiplikatoren gilt Derartiges ja erst als berichtenswert, wenn es sich zum Spektakel vor der Silhouette Manhattans entwickelt.

Von Massen und Ehre


So geschah es auch. Wien zog nach, im Sog anderer Städte, und brachte es von ein paar hundert Läufern und Läuferinnen Mitte der Achtziger auf viele tausende heute. Mit jedem Jahr, an dem wieder mehr Teilnehmer gemeldet werden, gibt es auch mehr Gründe mitzumachen. Mehr Zuschauer bedeutet auch mehr Ehre: Das Gefühl, dem Massenereignis nicht nur beizuwohnen, sondern tatsächlich anzugehören, als angefeuerter Mitmacher – dieses Gefühl hat schon viele dazu bewegt, vom Höhenstrassenlauf oder von der Strecke Baden–Mödling in die Königsdisziplin überzuwechseln. Das Bad in der Menge ist so erfrischend wie die Dusche durch die Hydranten, die an zu warmen Tagen für die Läufer aufgedreht werden.

Der Triathlet, gar der Ironman sieht den Marathonlauf nur als Durchgangsstation auf dem Weg zu noch viel heftigerer Endorphinaus 2. Spalte schüttung. Was allerdings Peter Rietveld vorhat, dafür dürfte es noch gar keinen Namen geben. 25 Marathons von Bregenz bis Bratislava will er in 25 Tagen absolvieren, am 6. Mai soll zeitgerecht Wien dran sein. Das degradiert Ironmen zu Sonntagsspaziergängern.

Laufen für die Aufmerksamkeit


Mit der Aktion "Run For Lives" will der Krankenpfleger Rietveld auf die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" aufmerksam machen und zur Unterstützung aufrufen, zum Beispiel, indem man selber eine Strecke mitläuft – womit ein weiterer Grund fürs Laufen im Allgemeinen und für den Wien-Marathon im Besonderen gegeben wäre. Die angebliche Endorphinausschüttung und die angebliche Mauer nach 25 Kilometern halten sich die Waage. Wer sie erlebt, hat die Pro- und Kontra-Gründe in sich vereint. So wie der Marathonläufer in einer Zeichnung von Tex Rubinowitz, der auf die Frage, was er nachher vorhat, antwortet: "Nicht mehr laufen." Bis der nächste Termin juckt. (Michael Freund, DER STANDARD Printausgabe 04.05.2006)

Quelle
http://derstandard.at


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