Realistischer Pessimismus


Weshalb die Schweizer Abfahrer mit bescheidenen Zielen in die Saison steigen.

Von Stefan Oswalt

Die Saison 2004/05, der schlechteste Winter aus Schweizer Sicht seit der Einführung des alpinen Weltcups vor bald 40 Jahren, ist noch nicht verdaut. Nicht nur in den Verbandsgremien von Swiss Ski, wo weder Ruhe noch Kontinuität Einzug hält. Auch im Leistungsbereich deuten nicht alle Zeichen darauf, dass nach dem Winter ohne eine WM-Medaille, ohne einen Weltcupsieg und mit nur ganz vereinzelten Podestplätzen die Talsohle tatsächlich durchschritten ist. Der Auftakt mit den Riesenslaloms in Sölden hat Ende Oktober einen Vorgeschmack gegeben auf das, was auf die hiesige Anhängerschaft zukommen könnte: Je ein 16. Rang bei den Frauen und Männern durch Marlies Oester und Didier Défago waren die ernüchternden Bestresultate.

Vor dem «richtigen» Saisonstart in Übersee stehen die Aussichten kaum besser. «Zwei Fahrer in den ersten 15 und vier bis fünf in den ersten 30», lautet das bescheidene Ziel von Cheftrainer Martin Rufener für die mit zehn Fahrern startende Mannschaft. Der Berner Oberländer vor seiner zweiten Saison als Cheftrainer in der neuen Rolle des Miesmachers? «Ich bin Realist, nicht Pessimist», sagt Rufener. Dass die Schweizer nicht mehr genügend Speed aufbringen, um in der Abfahrt an die Spitze zu fahren, ist keine neue Erscheinung. Fünf Siege und insgesamt 21 Podestplätze haben sie in den letzten zehn Weltcup-Wintern errungen - die Österreicher kamen zum Vergleich allein letzte Saison auf sieben Siege und insgesamt zwanzig Podestplätze.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele von Turin deutet wenig auf eine markante Besserung des Swiss-Ski-Patienten hin. Dass im Sommertraining in Argentinien als Folge riesiger Schneemassen so gut wie nur Riesenslalom trainiert werden konnte, war Künstlerpech. Das Versäumte konnte in den letzten Tagen in Kanada ein Stück weit nachgeholt werden. In Nakiska, dem Olympiagelände von 1988, wurde jedoch abermals vorwiegend Riesenslalom trainiert, und in Panorama sind in den letzten Tagen vor dem Saisonstart nur schnelle Super-G möglich.

Bedeutsamer sind die Handicaps, mit denen die wenigen Leistungsträger in der kleinen Equipe zu kämpfen haben. Auf Didier Cuche ruhen die grössten Hoffnungen, obschon er nach einem Kreuzbandriss fast die ganze letzte Saison verpasst hat. An einem schmerzfreien Tag repräsentiere er im Training Weltklasse, schwärmen Beobachter, doch das lädierte Knie zwang und zwingt ihn immer wieder zu Pausen. Wie labil die Leistungen Cuches diese Saison ausfallen könnten, zeigte sich beim Auftakt in Sölden, als er im ersten Lauf überraschend Siebenter wurde, im Finale aber in den 23. Rang zurückfiel.

Bruno Kernen, neben Cuche der zweite Weltcup-Abfahrtssieger in der Mannschaft, startet mit dem Handicap, dass er nach einer Bänderverletzung am Knöchel zuletzt fünf Wochen ohne Schneetraining blieb. Jürg Grünenfelder, der nach langjährigem Verletzungspech im letzten Winter unerwartet den Anschluss wieder gefunden hatte, benötigte nach einem mehrfachen Beinbruch länger als erwartet, bis er wieder nach Programm trainieren konnte. Jetzt habe Grünenfelder den Anschluss an seinen Markenkollegen Ambrosi Hoffmann wieder gefunden, verkündet Rufener.

Doch das habe wenig zu bedeuten, vernimmt man aus dem Team, denn Hoffmann kämpfe - nicht zum ersten Mal - wie die Grünenfelder-Brüder mit den Tücken der Schweizer Stöckli-Ski. «Wir hatten nach den Sommerferien während ein paar Tagen Probleme, weil wir unsere Skis in die falsche Richtung weiterentwickelt hatten», sagt der Patron Beni Stöckli. Mittlerweile aber seien seine Abfahrer mit ihren Ski «happy». Dem will niemand offen widersprechen, nachdem sich der österreichische Abfahrtstrainer Hans Flatscher an den Weltmeisterschaften 2004 nach der Männer-Abfahrt zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte und vor den Medien die Nachteile seines Teams bezüglich Skimaterial anprangerte.

Dass die Stöckli-Ski auf harter Piste und steiler Unterlage kaum zu steuern seien, wird darum höchstens verschlüsselt kommuniziert. Doch es gibt Zahlen, welche die Unsicherheit belegen. Die Innerschweizer Skifirma ist mit drei Serviceleuten (für drei Abfahrer), zwei Testfahrern und rund hundert Paar Skis in Kanada präsent. Dieses Stadium des Testens ist normalerweise spätestens im September abgeschlossen.
 


Quelle
http://www.nzz.ch


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